Im Blickpunkt der März-Auktion: Ein Hinterglasbild aus dem Almanach “Der Blaue Reiter”

Hinter einem kleinen, auf den ersten Blick fast unscheinbar wirkenden Rußbild „Pietà“ (Maria Taferl) aus dem Angebot der Frühjahrsauktion verbirgt sich ein kunstgeschichtliches Schwergewicht: Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um eine jener Volkskunstarbeiten, die Franz Marc, August Macke, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky für ihren Almanach “Der Blaue Reiter” auswählten, der die Kunstrezeption des 20. Jahrhunderts profund veränderte.

Faszinierende Volkskunst

Bis auf ein winziges Detail in der Mundpartie Mariens und den fehlenden Faltenwurf des Mantels gleicht das Hinterglasbild exakt der Abbildung der bahnbrechenden, 1912 in vier Ausgaben erschienenen Publikation. Da das vorliegende Bild restauriert wurde, ist mehr als plausibel, dass es sich dabei tatsächlich um die über viele Jahrzehnte verschollen geglaubte Volkskunst-Arbeit handelt, die die vier Künstler bei der Zusammenstellung des Bebilderungsprogramms für den Almanach nachdrücklich faszinierte.

Prominenteste Hinterglasarbeit im Almanach

Denn sie ist unter den insgesamt elf volkstümlichen Spiegel- und Hinterglasbildern, die Eingang in die finale Auswahl fanden, nicht nur eines der lediglich drei Bilder, denen eine ganze Buchseite gewidmet ist. Auch ihre Position innerhalb des Almanachs ist mehr als prominent: Platziert im Aufsatz „Das Verhältnis zum Text“ von Arnold Schönberg gegenüber einer auf einer halb mit Text gefüllten Seite mit der Abbildung einer Schnitzerei von den Marquesas-Inseln aus dem Ethnographischen Museum in München leitet das Rußbild jene Sequenz ein, die die „Blaue Reiter“-Spezialistin Annegret Hoberg als „spektakulärste aller ohnehin frappierenden Gegenüberstellungen“ von Kunstwerken in dem gesamten Almanach bezeichnet: das Nebeneinander von Robert Delaunays „Tour Eiffel“ und El Grecos „St. Johannes“.

Kraftvoller optischer Dreiklang

Betrachtet man den Eindruck, den das Blättern durch die Folge aller drei ganzseitigen Abbildungen erzeugt, so entsteht ein überaus kraftvoller Dreiklang, der eine Essenz dessen bildet, was die Künstler mit der Bebilderung des Almanachs eindringlich darlegen wollten: „Die Auswahl der gezeigten Bilder folgt dem Leitgedanken, dass Formfragen für die eigentliche künstlerische Qualität eines Kunstwerks äußerlich sind“, schreibt Hoberg im Begleitband zur 2009 erschienenen Reedition der „Museumsauflage“ des Almanachs. „Dieser Pluralismus, die Variationsbreite der Form, etwa von naiv-gegenständlich wie bei Kinderzeichnungen oder populären Hinterglasbildern bis hin zu fast gänzlich abstrakt wie bei Kandinskys ,Komposition V‘ zeichnet auch die Offenheit der Redakteure (Marc und Kandinsky) gegenüber den akuellsten Produktionen ihrer Kollegen aus, die sie in den Almanach einbezogen.“

Teil einer Revolution

Zur Gesamtwirkung dieses Bildkanons resümiert Hoberg: „Kein gemeinsamer Formenkanon, sondern das geistige Prinzip, oder die ,mystisch-innerliche Konstruktion‘ bildet im Kunstwerk das verbindende Moment, das den Almanach mit seinem komplizierten Geflecht von Texten und Bildern vielstimmig durchziehen soll. Durch diesen offenen Stilbegriff, der – oft unter Berufung auf ,primitive‘ Kunst – nur ,das Echte‘ und ,innerlich Notwendige‘ gelten lassen will, werden sämtliche traditionelle Formgesetze auf noch radikalere, weil grundsätzlichere Weise als von den bisherigen Avantgarden über Bord geworfen.“ Das vorliegende, auf 800 Euro taxierte Hinterglasbild fungiert als wichtiger Teil dieser Schrift gewordenen künstlerischen Revolution.